Die Welt der Softwareentwicklung befindet sich in einem stetigen Wandel. Entwicklungsmethoden kommen und gehen, neue Technologien entstehen und verschwinden oft ebenso schnell. Gleichzeitig ändern sich die Marktanforderungen in rasantem Tempo. Und doch behalten bestimmte Grundprinzipien trotz all dieser Veränderungen ihre Gültigkeit. Vor über zwanzig Jahren veröffentlichten Mary und Tom Poppendieck ihr wegweisendes Werk Lean Software Development: An Agile Toolkit. Darin übertrugen sie die erfolgreichen Prinzipien der Lean-Produktion von Toyota auf die Softwareentwicklung.

In einer Artikelserie werden wir diese Prinzipien beleuchten und hinterfragen, ob sie auch heute noch relevant sind. Während wir uns im Jahr 2025 durch die Komplexität der Softwareentwicklung bewegen – geprägt von wachsender KI-Integration, neuen Cloud-nativen Architekturen, zunehmender Plattform-Engineering-Praxis, verstärkten Sicherheitsbedrohungen und immer höheren Anforderungen an Liefergeschwindigkeit – lohnt sich ein Blick zurück auf die Grundkonzepte des Buchs. Und wie wir sehen werden, sind diese heute genauso relevant wie vor 22 Jahren.

Das erste Prinzip, das sie aufgriffen und das das Fundament ihres Rahmens bildet, klingt einfach, hat aber tiefgreifende Auswirkungen: Verschwendung eliminieren.

Die Lean-Basis: Wert und Muda

Ist die Idee der Eliminierung von Verschwendung, wie von den Poppendiecks definiert, heute noch relevant? Oder hat sich die IT-Welt so stark verändert, dass diese ursprünglichen Erkenntnisse nur noch historischen Wert haben? Die Antwort ist eindeutig: Das Prinzip der Verschwendungsbeseitigung ist nicht nur weiterhin relevant – es ist heute vielleicht sogar wichtiger denn je. Verschwendung zu erkennen und gezielt zu bekämpfen, bleibt entscheidend für die Entwicklung effektiver Softwaresysteme. Lean Thinking, das die Grundlage der Arbeit der Poppendiecks bildet, zielt darauf ab, den Kundennutzen zu maximieren und gleichzeitig Verschwendung zu minimieren. Werfen wir einen Blick auf die Wurzeln dieses Denkens.

Diese Wurzeln reichen zurück ins Nachkriegsjapan zur Automobilfirma Toyota. Um Autos kostengünstig für einen kleinen Markt zu produzieren, konnte sich Toyota nicht auf die Skaleneffekte der Massenproduktion verlassen. Taiichi Ohno, der Architekt des Toyota-Produktionssystems, entwickelte daher einen neuen Ansatz, der konsequent auf das Erkennen und Eliminieren von „Muda“ – dem japanischen Wort für Verschwendung – ausgerichtet war. Alles, was Zeit, Geld oder Aufwand verbraucht, aber aus Kundensicht keinen Mehrwert bringt, gilt als Verschwendung. Dazu gehören nicht nur offensichtliche Dinge wie Fehler, sondern auch Lagerhaltung, Überproduktion, unnötige Prozesse, Wartezeiten und übermäßige Komplexität.

Ohno und Toyota übertrugen dieses Denken erfolgreich auf die Produktentwicklung. Dabei erkannten sie, dass laufende Entwicklungsprojekte vergleichbar mit Lagerbeständen sind – Arbeit, die noch keinen Kundennutzen gebracht hat. Designs und Prototypen schaffen erst dann echten Wert, wenn das Endprodukt beim Kunden ankommt. Ziel war es daher, die Entwicklungszyklen zu verkürzen.

Diese Sichtweise stellte das klassische Denken in der Softwareentwicklung infrage. Die Poppendiecks übertrugen die sieben Arten der Verschwendung aus dem Toyota-System auf den Softwarebereich. Wer diese erkennt und systematisch eliminiert, kann Entwicklungsprozesse verschlanken, Kosten senken, Qualität erhöhen, Durchlaufzeiten verkürzen und schlussendlich mehr Wert für den Kunden liefern – und das schneller.

Die sieben Arten der Verschwendung im Überblick

1. Teilweise erledigte Arbeit (Bestände)

Arbeit, die begonnen, aber nicht abgeschlossen wurde – z. B. nicht gelesene Anforderungsdokumente, nicht integrierter Code oder Features, die auf Tests warten – bindet Ressourcen, ohne Wert zu liefern. Sie wird schnell obsolet, erschwert die Übersicht und kaschiert Probleme.

Relevanz 2025: Branches, die über Wochen ungemerged bleiben, umfangreiche Backlogs ohne Kapazität zur Umsetzung oder ungetestete KI-Modelle sind moderne Varianten dieses Problems. Continuous Integration, kleine Batch-Größen, Feature-Toggles – all das sind Gegenmittel.

2. Überflüssige Features (Überproduktion)

Features zu entwickeln, die niemand braucht oder nutzt, ist eine der tückischsten Formen der Verschwendung. Sie erhöhen den Wartungsaufwand, machen Tests komplexer und das UI unübersichtlicher.

Relevanz 2025: Dank leistungsstarker Frameworks ist Feature Creep einfacher denn je. MVPs, YAGNI, A/B-Tests und Nutzerfeedback bleiben wichtige Maßnahmen zur Begrenzung dieses Problems.

3. Wiederholtes Lernen (Bewegung)

Geht Wissen verloren, muss es neu erarbeitet werden – durch schlechte Dokumentation, unzureichende Wissensweitergabe oder Teamwechsel.

Relevanz 2025: Komplexe Cloud-Umgebungen, Microservices und KI-Modelle bergen enormes Risiko. Pair Programming, interne Wikis, Architekturautomatisierung und Communities of Practice sind Gegenstrategien.

4. Übergaben (Transport)

Jede Weitergabe – vom Analysten zum Entwickler, vom Tester zur Ops – birgt Risiken: Wartezeiten, Missverständnisse und Informationsverluste.

Relevanz 2025: DevOps und cross-funktionale Teams reduzieren Übergaben. Dennoch bleiben versteckte Übergaben zwischen Produktmanagement und Technik, Data Scientists und ML Engineers etc. ein Thema. Value Stream Mapping bleibt ein wertvolles Werkzeug.

5. Kontextwechsel (Bewegung/Verarbeitung)

Multitasking führt zu Effizienzverlusten. Häufige Unterbrechungen erhöhen den kognitiven Aufwand und begünstigen Fehler.

Relevanz 2025: Tools wie Slack und ständige Meetings verstärken dieses Problem. WIP-Limits, Fokuszeiten und eine Kultur für „Deep Work“ sind wichtige Gegenmaßnahmen.

6. Verzögerungen (Warten)

Jede Form des Wartens – auf Feedback, Testumgebungen, Builds, Freigaben – verlängert Durchlaufzeiten und frustriert.

Relevanz 2025: Auch wenn CI/CD vieles verbessert hat, bleiben Wartezeiten – z. B. durch manuelle Freigaben oder langsame Tests – bestehen. Automatisierung, Parallelisierung und bessere Governance sind nötig.

7. Fehler, Bugs, Schwachstellen (Defekte)

Späte oder beim Kunden entdeckte Fehler sind teuer. Sie beschädigen das Vertrauen und kosten viel Aufwand in Behebung und Neuveröffentlichung.

Relevanz 2025: Prävention durch „Shift Left“, TDD, automatisierte Tests, statische Analysen, Security Scans, Observability und schnelle Rollbacks sind heute unverzichtbar.

Die achte Verschwendung: Ungenutztes Potenzial von Menschen

Diese Kategorie wurde später ergänzt: Wenn Mitarbeitende nicht ihre vollen Fähigkeiten, ihre Kreativität und ihr Wissen einbringen können, ist das eine Form von Verschwendung. Ursachen sind z. B. autoritäre Führung, fehlende Kommunikation, unzureichende Weiterbildung oder mangelnde psychologische Sicherheit.

Relevanz 2025: Der „War for Talent“ macht diese Verschwendung besonders gravierend. Autonomie, Sinnhaftigkeit und ein sicheres Umfeld sind entscheidend, um Talente zu gewinnen und zu halten.

Auch Managementaktivitäten können Verschwendung erzeugen: überkomplexe Priorisierungsprozesse, unbrauchbare Tracking-Systeme, Bürokratie. Oft sind sie ein Symptom dafür, dass zu viel Arbeit gleichzeitig betrieben wird – agile Managementmethoden und Frameworks wie Scrum können hier Abhilfe schaffen.

Herausforderungen und Nuancen im Jahr 2025

Die Grundprinzipien bleiben, doch ihre Anwendung erfordert heute mehr Feingefühl:

  • Neue Verschwendungsarten: Z. B. überkomplexe Toolchains, zu starke Abstraktionen, Datensammlung ohne Nutzen oder ineffiziente Cloud-Ressourcennutzung.
  • Skalierung: Verschwendung in großen, verteilten Systemen zu erkennen, ist deutlich schwieriger als in kleinen Teams.
  • Notwendiger Aufwand vs. echte Verschwendung: Nicht alles, was keinen direkten Kundennutzen bringt, ist Verschwendung – z. B. Sicherheitsmaßnahmen oder Plattform-Engineering. Hier ist eine differenzierte Sicht gefragt.

Fazit

Ein Rückblick auf das erste Kapitel von Lean Software Development zeigt: Das Prinzip der Verschwendungsbeseitigung ist auch 2025 hochaktuell. Die konkreten Ausprägungen mögen sich ändern, doch die Grundideen – teilweise erledigte Arbeit, überflüssige Features, verlorenes Wissen, Übergaben, Kontextwechsel, Verzögerungen, Fehler und ungenutztes Talent – sind weiterhin die größten Bremsen für Produktivität, Qualität und Kundennutzen.

Die Herausforderungen der Gegenwart verstärken die Notwendigkeit, Verschwendung zu erkennen und zu beseitigen. Wer kontinuierlich an einem Lean-Mindset arbeitet, ist besser gewappnet, moderne Software nachhaltig, effizient und wertschöpfend zu entwickeln – mit motivierten und produktiven Teams.

Die Einsichten der Poppendiecks sind nicht nur historisch relevant – sie bieten auch heute noch eine wertvolle Perspektive für die Optimierung moderner Entwicklungspraktiken. Verschwendung zu beseitigen ist kein einmaliges Projekt, sondern eine kontinuierliche Aufgabe für nachhaltigen Erfolg.

Freu dich auf den nächsten Artikel, in dem wir uns dem zweiten Kapitel von Lean Software Development: An Agile Toolkit widmen: Lernen verstärken.